Trauer – Mythen und Fakten

Urs Münch

Berlin

1. Hintergrund

In Deutschland gibt es in der Psychiatrie, Psychosomatik oder Psychotherapie lediglich zwei Lehrstühle (MS Berlin und KU Eichstätt-Ingolstadt), die einen Forschungsschwerpunkt auf dem Thema Trauer vorweisen können. Auch ist Trauer in den Ausbildungen der (Geronto-) Psychiatrie und Psychotherapie allenfalls ein Randthema, obwohl es im Leben älterer Menschen eine gewichtige Rolle spielt. Das Wissen internationaler Trauerforschung findet wenig Verbreitung, so dass sich nach wie vor Annahmen und Mythen zu dem Thema halten und in der Praxis, Fort- und Weiterbildung Anwendung finden, obwohl kein empirischer Beleg vorliegt. Prominentes Beispiel hierfür sind die Phasenmodelle nach Kuebler-Ross (Beispiel für Sterbephasen: Student, 2019), die jeglicher empirische Grundlage oder Evidenz entbehren und sogar für Trauernde gefährlich werden können (Stroebe, Schut, Boerner 2017). Für das Thema Trauer gilt in Deutschland der Bundesverband Trauerbegleitung als Hauptansprechpartner, der auch bislang als einzige Institution Qualifizierungsstandards in der Arbeit mit Trauernden vertritt, ohne eine Verlinkung zu empirischen akademischem Forschungswissen zum Thema Trauer zu haben. Dies zeigte sich beispielsweise auch in der wenig differenzierten Ablehnung der ICD-11-Diagnose „Prolonged Grief Disorder“ (z.B. Paul, 2017), die zwar auch international kontrovers diskutiert wurde und wird (z.B. Münch 2020, Stroebe, Stroebe, Schut, Boerner 2017; Entwicklung im DSM-V-TR Cacciatore und Frances 2022), aber immerhin basierend auf Forschungsergebnissen von Studien sind.
Es braucht also mehr Wissen über Trauer in der Breite der Versorgung, das empirisch belegt und kulturunabhängig anwendbar ist.


2. Methodik

Literaturrecherche und Extraktion der wesentlichsten aktuellen Erkenntnisse internationaler Forschung.


3. Ergebnis

• Das Duale Prozessmodell der Bewältigung von Verlusterfahrungen samt seiner Erweiterungen (Müller et al 2022) stellt ein kulturunabhängiges und individuellen Unterschieden gerecht werdendes Modell dar und lässt sich im Gegensatz zu Phasenmodellen empirisch belegen. Trotzdem ist es in der Praxis selten im Einsatz, obwohl es sehr präzise erläutern kann, wann in solch einem Prozess Unterstützungsbedarf besteht und wann nicht.
• Wenig intensive Trauerverläufe sind auch normal (Bonnano und Malgaroli 2020)
• Trauer ist nicht gleich Depression und nicht gleich PTBS (Münch 2020, Szuhany 2021)
• Trauer und Medikamente: Antidepressiva helfen nicht, aber aktuell wird die Wirksamkeit von Naltrexon untersucht (Szuhany 2021, Gang et al 2021)
• Prolonged Grief Disorder: Vorstellung der ICD-11-Diagnose und Abriss der Diskussion (Münch 2020)
• Empfehlung eines gestuften Versorgungsmodells für Trauernde (Müller et al 2023)
• Pre Loss Grief statt Antizipierter Trauer! Das Konzept der Antizipierten Trauer lässt sich nicht belegen (Nielsen et al 2016).

Der Vortrag stellt die Ergebnisse der Literaturrecherche zur Diskussion und räumt mit Mythen auf.

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